Andacht: Meine Hand für andere
„Seht auf, und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht“ (Lukas 21,28). Eine Andacht von Vera Gast-Kellert
Es ist erst wenige Wochen her, da erschütterte die Nachricht vom Erdbeben in Izmir die Welt. Immer wieder frage ich mich, wie das wohl sein muss, lebendig unter Trümmern begraben zu sein, auf Hilfe zu hoffen, jede Minute. Vielleicht ein Klopfen zu hören, ein Hoffnungszeichen. Und dann dringen ein Lichtstrahl und eine helfende Hand zu mir und jemand zieht mich heraus. So mag es der dreieinhalb Jahre alten Elif bei Izmir ergangen sein. Verschüttet hat sie sich 65 Stunden an dem Finger eines Feuerwehrmanns festgehalten. Und sie schaffte es zu überleben.
Der Wochenspruch für den zweiten Advent „Seht auf, und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht“ (Lukas 21,28) ist hineingesprochen in eine Welt, die auch zusammenzustürzen scheint, zusammenzustürzen wie die Gebäude bei Izmir. Die Verse aus dem 21. Kapitel des Lukasevangeliums beschreiben das Ende der Welt in erschütternden Bildern. Zeichen am Himmel, verheerende Unwetter – und die Menschen vergehen vor Angst. Die ersten Christengemeinden mussten unter Ungerechtigkeit und Verfolgungen leiden und sahen darin die Anzeichen eines Zusammenbruchs der Welt mit kosmischen Ausmaßen.
Das zu Ende gehende Jahr gibt uns ein Gefühl dafür, was es heißt, wenn Sicherheiten wanken und zusammenzustürzen scheinen – bedrohliche Klimaveränderungen, nationalistische Kriege, fundamentalistischer Terror, Flucht und Vertreibung mit weltweiten Folgen und Corona als lebensbedrohliche Krankheit mit globalen Ausmaßen. Wir können jetzt vielleicht ein wenig besser verstehen, was es heißt, die Zukunft nicht genau berechnen, nicht alles sicher planen zu können. Wir können ein wenig nachfühlen, was das für Menschen weltweit immer schon bedeutet.
Doch inmitten der Bedrohung lebten die frühen Christengemeinden in der Gewissheit, am Ende sei ihnen und der ganzen Welt Erlösung versprochen. Sie hörten den Zuspruch „Seht auf, und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht“. Der Evangelist Lukas wird von der Sorge umgetrieben, dass die Menschen sich von der Angst überwältigen lassen und die Hoffnung verlieren. Deshalb richtet er ihren Blick, unseren Blick, nach vorne auf Gottes Möglichkeiten, auf die Erlösung, die er bringt, auf die große Hoffnung, die die ganze Geschichte Gottes mit seinem Volk und mit der Welt durchzieht.
Advent zu feiern in diesen Zeiten bedeutet für mich, wie Elif in Izmir an der zu mir ausgestreckten Hand festzuhalten und meine Hand für andere auszustrecken, die Halt und Hilfe brauchen. Ich freue mich, dass Volker Ochs 1980 diesen Vers aus Lukas 21,28 vertont hat und lasse ihn in mir klingen.
Mit diesem Vers im Herzen und auf den Lippen wünsche ich allen einen gesegneten zweiten Advent.
Ihre Vera Gast-Kellert