Andacht: Der Zusage Gottes Glauben schenken
„Der Menschensohn muss erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben“ (Johannes 3, 14.15). Eine Andacht von Vera Gast-Kellert
Es war kurz vor Ostern. Wir hatten uns zu einer kurzen Ruhepause in die Catedral Metropolitana im Zentrum von Montevideo zurückgezogen und sahen, wie sie hereinkam – nennen wir sie Juanita. Ihr Gesicht zerfurcht, ihre Hände abgearbeitet, ihre Kleidung mit Spuren der harten Arbeit. Sie kommt, so denke ich, wohl aus einem der mehr als 300 Elendsviertel der Millionenstadt, arbeitet bestenfalls als Tagelöhnerin. Wahrscheinlich ist sie Analpha↵betin und wohnt mit ihren Kindern in einem Zimmer ohne Bad und Küche, mit einem Bett für die ganze Familie. Ihr Mann hat sich schon lange aus dem Staub gemacht, vielleicht auch nicht so schlecht, weil er sowieso gewalttätig war. Hier ruht sie aus. Sie bleibt hinten in der Kirche und drückt sich nahe an ein Kruzifix. Ihre rauen Hände strei↵cheln liebevoll und intensiv den aus braunem Holz geschnitzten Corpus des Gekreuzigten. Sie scheint leise mit ihm zu reden.
Da gehen mir die Worte des geheimnisvollen Wochenspruchs durch den Kopf: „Der Menschensohn muss erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben“. (Joh 3, 14.15) Es ist ein Vers aus einem hochtheologischen Gespräch über den Sinn des Lebens, das ewige Leben, das Reich Gottes. Jesus selbst führt es mit Nikodemus, einem theologischen Lehrer, der Jesus aus welchem Grund auch immer nachts aufgesucht hat. Für den gelehrten Nikodemus ist klar, worauf Jesus mit dem Wort „Erhöhung“ anspielt.
Es ist die dem jüdischen Volk bekannte Rettungsgeschichte von der ehernen Schlange. Die Israeliten waren auf der Wüstenwanderung verzweifelt, ihre Lage schien aussichtlos, und sie murrten. Hinzu kamen Schlangen, die sie bissen. Da erhielt Moses von Gott den Befehl, eine eherne Schlange hoch an einer Stange zu befestigen. Die Gebissenen wurden gerettet, wenn sie im Bewusstsein der eigenen Hilflosigkeit ihren Blick auf diese erhöhte eherne Schlange richteten und der Zusage Gottes Glauben schenkten. (4. Mose 21)
In Beziehung mit dem Gekreuzigten
Juanita wird diese Geschichte von der ehernen Schlange nicht kennen. Sie kommt in der Mittagshitze und nicht bei Nacht. Eine theologische Diskussion wie Nikodemus kann sie auch nicht führen. Aber sie wendet sich dem Gekreuzigten bedingungslos und hilflos zu und klagt ihm ihre Sorgen. In ihm erlebt sie das ihr zugewandte liebende Gesicht Gottes und was Dietrich Bonhoeffer gemeint hat, wenn er sagt: „Die Gestalt des Gekreuzigten setzt alles am Erfolg ausgerichtete Denken außer Kraft“.
Die Begegnung mit Juanita ist für mich eine Auslegung des Bibelverses für die Karwoche. So kann jeder und jede ohne irgendeine Vorbedingung beim Blick auf Christus ewiges Leben – ein mit Gott verbundenes Leben – haben, kann in den Raum eintreten, in dem nicht Erfolg, sondern Liebe den Ton angibt. So entsteht eine tiefe innere Verbindung mit Gott. Die vertrauensvolle Hinwendung zum Gekreuzigten und nicht das Wahrhalten bestimmter Dogmen ist, was Glauben bedeutet. Darin öffnet sich Gottes Herz – für mich.
Als Juanita die Kirche wieder verlässt, sind ihre Gesichtszüge entspannt. Die Berührung und das Gespräch am Kreuz haben ihr Kraft gegeben. Ihre Lebensumstände haben sich nicht geändert. Das bleibt eine weltpolitische – auch unsere – Aufgabe. Aber sie hat neuen Lebensmut getankt. Sie hat den Gekreuzigten gegriffen, ist ergriffen und hat tief in ihrem Herzen begriffen, was Friedrich von Bodelschwingh jr. 1938 in einem Passionslied (EG 93) als „das Geheimnis Gottes“ und „das Geheimnis neuen Lichtes“ besingt. Das fünfmalige „Ja“ zu Gottes Wegen in der letzten Strophe dieses Liedes ist seine Antwort in dunkler Zeit.
Die Passions- und Osterzeit ist für uns eine Gelegenheit, dieses Lied zu singen und vertrauensvoll in die letzte Zeile einzustimmen: „Ja, du machst eins alles neu“. Das ist keine Vertröstung, kein Drücken vor der eigenen Verantwortung, sondern eine Ermutigung zu jedem noch so kleinen Schritt. Es gibt auch 2021 in schwierigen Zeiten Kraft und Hoffnung, ist das Angebot eines neuen Lebens, und weitet unseren Blick über uns selbst hinaus.
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ANHANG
Vera Gast-Kellert.jpg. Foto: Privat. Bildzeile Vera Gast-Kellert ist Mitglied im Ausschuss für Mission und Ökumene. Die weltweite Ökumene liegt ihr am Herzen. Das Foto kann kostenfrei genutzt werden